Fremdsprache als Zankapfel

Im Fremdsprachenunterricht lässt der Föderalismus (ebenfalls) grüssen. Mit der nationalen Sprachenstrategie und dem Lehrplan 21 nähern sich die Kantone zwar an. Trotzdem gibt es noch Unterschiede – zum Leidwesen der Kinder und Schulen.

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Léanne besucht die dritte Klasse der Primarschule in Düdingen FR. Im August des letzten Jahres hat für sie der Französischunterricht begonnen. Englisch wird sie ab der fünften Klasse lernen. Gelernt wird in kleinen Gruppen. «Dadurch profitieren die Kinder», stellt Fabienne Schweizer, die Mutter von Léanne und Vorstandsmitglied von der Sektion Düdingen von Schule und Elternhaus Schweiz, fest. «Léanne geht gerne in den Französischunterricht. Sie ist neugierig und kommt gut voran. Auffällig ist, dass die Kinder mit dem Lehrmittel ‹Mille feuilles› die Fremdsprache grösstenteils über das Gehör erlernen», sagt Fabienne Schweizer. Der Schulunterricht könnte die Vorteile eines zweisprachigen Kantons allerdings noch besser nutzen, findet Fabienne Schweizer: «Während der Primarschule findet kaum ein Austausch mit Kindern aus dem französischsprachigen Kantonsteil statt. Erst in der achten beziehungsweise neunten Klasse besteht die Möglichkeit, eine Woche bei einer Familie im anderen Sprachgebiet des Kantons zu verbringen.»

Lange Tradition

Als offiziell viersprachiges Land betreibt die Schweiz ein anspruchsvolles, aber ihrer besonderen Sprachensituation angepasstes Sprachenkonzept für die obligatorische Schule. Es umfasst das Erlernen einer zweiten Landessprache und Englisch ab der Primarstufe. Während das Lernen einer zweiten Landessprache in der Schweiz bereits eine lange Tradition hat, ist die Vorverlegung des Englischen auf die Primarstufe jüngeren Datums. Sie erfolgte in den Kantonen nach unterschiedlichen Zeitplänen. Die ersten Kantone starteten zu Beginn der 2000er-Jahre, als letzter Kanton hat Waadt im Schuljahr 2015/2016 das Englische auf die Primarstufe vorverlegt.

Nationale Sprachenstrategie

Grundlage für die koordinierte Weiterentwicklung bildet die Sprachenstrategie der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) vom 25. März 2004. Ihre wichtigsten Ziele sind: Das Sprachenlernen in der Schweiz soll insgesamt verbessert werden – auch das Lernen der ersten Sprache. Die Schweiz soll stärker von ihrer Mehrsprachigkeit und vom Potenzial des frühen Sprachenlernens profitieren und dadurch ihre Konkurrenzfähigkeit im europäischen Kontext erhalten. Gemäss der Sprachenstrategie wird die erste Fremdsprache ab der dritten Primar der obligatorischen Schule und die zweite spätestens ab der fünften Primarklasse unterrichtet. Dieses «Modell 3/5» wird heute laut Dominique Chételat, Leiter des Koordinationsbereichs Obligatorische Schule beim Generalsekretariat der EDK, in fast allen Kantonen der Deutschschweiz umgesetzt; weitere Angleichungen sind geplant. So hat auch der Kanton Aargau angekündigt, dass er zusammen mit der Einführung des Lehrplans 21 den Beginn des Französischunterrichts um ein Jahr vorverlegen will, also von heute «3/6» auf «3/5» wechseln wird. Der Kanton Zürich startet als einziger Kanton mit Englisch bereits in der zweiten Primarklasse. Er plant, zusammen mit der Einführung des Lehrplans 21 die Verschiebung des Englischunterrichts auf die dritte Klasse und damit ebenfalls einen Wechsel von «2/5» auf «3/5». Die einzigen Ausnahmen wären dann noch die Kantone Uri und Appenzell- Innerrhoden, die zwar mit Englisch in der 3. Primarklasse beginnen, in denen der obligatorische Französischunterricht aber erst im 7. Schuljahr einsetzt.

Regionale Unterschiede

Die Reihenfolge der unterrichteten Sprachen – also der zweiten Landessprache und Englisch – wird regional koordiniert. Die sechs Kantone Baselland, Bern, Baselstadt, Fribourg, Solothurn und Wallis entlang der deutsch-französischen Sprachgrenzen haben sich für die Sprachenfolge Französisch vor Englisch ausgesprochen. Sie haben sich zu einer Region zusammengeschlossen mit dem Ziel, die Neukonzeption des Fremdsprachenunterrichts unter dem Titel «Passepartout» gemeinsam anzugehen. In der dritten Klasse starten die Kinder in diesen Kantonen mit Französisch. In der fünften Klasse folgt der Englischunterricht. Sie haben damit das gleiche Vorgehen gewählt wie die lateinischen und zweisprachigen Kantone, die ebenfalls mit einer Landessprache beginnen, während in den anderen Kantonen der Deutschschweiz überall Englisch zuerst unterrichtet wird. Grundsätzliches Ziel der Sprachenstrategie der EDK ist es – so Dominique Chételat –, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit in beiden Sprachen vergleichbare Kompetenzen erreichen.

Kantonswechsel mit Hindernissen

Angesichts des immer noch vorherrschenden Föderalismus im Fremdsprachenunterricht spricht sich René Weber, Präsident von Schule und Elternhaus Schweiz (S&E), für eine Vereinheitlichung in allen Kantonen aus. «Mit dem Lehrplan 21 wären alle Voraussetzungen dafür gegeben. Wenn einzelne Kantone die Einführung einer zweiten Fremdsprache in der Primarschule rückgängig machen oder nicht realisieren wollen, dann erschwert es für Familien den Wohnortwechsel zwischen Kantonen mit unterschiedlichen Regelungen.» Auch für die weiterführenden Schulen würde die Herausforderung immer grösser, wenn sie Kinder mit unterschiedlichen Fremdsprachenkompetenzen zu unterrichten hätten. Laut Dominique Chételat sind in den letzten Jahren erfreulicherweise alle zur Abstimmung gelangenden kantonalen Volksinitiativen in dieser Frage im Sinne des breit umgesetzten EDK-Modells «3/5» ausgegangen: «Sowohl in Nidwalden als auch in Zürich und Luzern hat das Stimmvolk die kantonalen Volksinitiativen ‹Nur eine Fremdsprache ab der Primarstufe› abgelehnt und damit das EDK-Modell mit zwei Fremdsprachen ab Primarschule bestätigt.» Auch im Kanton Thurgau hat der Grosse Rat im vergangenen Sommer eine Gesetzesänderung abgelehnt, die eine Verschiebung des Französischen auf die Sekundarstufe beinhaltet hätte. René Weber spricht sich für den Beibehalt der ersten Fremdsprache in der dritten und der zweiten Fremdsprache in der fünften Klasse aus: «Je jünger die Kinder die Chance bekommen, Fremdsprachen zu lernen, desto einfacher fällt es ihnen. Dies trifft allerdings nur zu, wenn die Erlernung nach modernen Methoden mit eher spielerischem Charakter anstatt mit Grammatikpauken geschieht.»

Solide sprachliche Grundlage schaffen

Als Vater von vier Kindern spricht sich Andreas Spahni aus Zug klar für zwei Fremdsprachen während der Primarschulzeit aus. Vor allem auch die Erfahrungen mit seinen beiden jüngsten Kindern, Brian (14) und Shannon (12), habe gezeigt, dass diese dank des frühen Fremdsprachenunterrichts ab der dritten Primarschulklasse mit einer soliden sprachlichen Grundlage ins Gymnasium eintreten konnten. «Schon während der Primarschule haben die Lehrpersonen unserer Kinder fast täglich die Fremdsprachen in den Unterricht miteingebaut. Dieses konsequente Vorgehen hat meiner Meinung nach den Kindern sehr viel gebracht. Leider wird dies nicht überall so gehandhabt.» Brian und Shannon sei es nicht schwergefallen, gleichzeitig zwei Fremdsprachen zu lernen. Etwas Überwindung habe es sie dann allerdings gekostet, das Gelernte dort anzuwenden, wo die Fremdsprachen gesprochen werden. «Wenn wir zum Beispiel in Frankreich in den Ferien sind, legen wir Wert darauf, dass unsere Kinder ihre Sprachkenntnisse anwenden, zum Beispiel beim Bestellen im Restaurant. Mittlerweile haben sie gemerkt, dass man sie ganz gut versteht. Das ist für sie ein Erfolgserlebnis», freut sich Andreas Spahni, der überzeugt ist, dass es fünf bis sechs Jahre dauert, bis man sich in einer Fremdsprache einigermassen sicher fühlt.

Argumente gegen einen frühen Fremdsprachenunterricht

Der Unterricht von zwei Fremdsprachen während der obligatorischen Schulzeit löst jedoch nicht nur Begeisterung aus. Urs Kalberer, seit über 20 Jahren als Englischlehrer an einer Sekundarschule tätig, beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit der Fremdsprachenthematik an Schulen. Er wirkt einen kritischen Blick auf das nationale Fremdsprachenkonzept: «Die Frage, welche Sprache zuerst unterrichtet werden soll, findet hierzulande mehr Beachtung als die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt Sinn ergibt, Fremdsprachen in der frühen Schulzeit zu unterrichten. Lebt ein Kind in einem anderen Land, lernt es die dortige Fremdsprache sehr schnell, weil es 24 Stunden von dieser Sprache umgeben ist. Anders sieht jedoch die Situation bei zwei bis drei Wochenlektionen in einem Schweizer Schulzimmer aus.» Urs Kalberer kritisiert die Behauptung, Kindern lernten eine Sprache im schulischen Umfeld schneller als Jugendliche oder Erwachsene. Die Überlegenheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im schulischen Spracherwerb gegenüber Kindern sei in der jüngeren Forschung unbestritten. «12-jährige Jugendliche lernen eine Fremdsprache besser als Primarschüler, weil sie ihre kognitiven Fähigkeiten besser einsetzen können. Kleinere Kinder lernen meist regellos, ohne Zusammenhang», sagt Urs Kalberer. Hinzu komme, dass Jugendliche meist den Sinn hinter dem Fremdsprachenunterricht besser erkennen als Primarschüler. Der Lehrer plädiert dafür, den Beginn des Fremdsprachenunterrichts mit vier Wochenlektionen auf die fünfte oder sechste Klasse zu verlegen, dafür mit mehr Wochenlektionen. «In diesem Alter sehen die Schüler den Sinn des Fremdsprachenlernens viel klarer. Zudem ist ihre Motivation höher als bei Primarschülern.» Zur Frage, ob man während der obligatorischen Schule eine oder zwei Fremdsprachen unterrichten soll, meint Urs Kalberer: «Besser wäre es, richtig Deutsch zu lernen – angesichts des steigenden Illetrismus.»

Wissenschaftliche Untersuchung

In den vergangenen Jahren wurde mit Bezugnahme auf Forschungsergebnisse immer wieder Kritik am Modell «3/5» geübt. Das hat die Koordinationskonferenz Bildungsforschung von Bund und Kantonen, in der auch die EDK vertreten ist, dazu bewogen, eine «Systematic Review» durchführen zu lassen. «Renommierte Bildungsforscher wurden damit beauftragt, sämtliche relevante nationale und internationale Forschung zur Frage des Erlernens von mehreren Fremdsprachen ab Primarschule anzuschauen», sagt Dominique Chételat. Der 2015 vom Danish Clearing House der Universität Aarhus (DK) publizierte Bericht zeigt, dass es derzeit keine Forschung gibt, die eine Veränderung des Schweizer Modells «3/5» nahelegen würde. Der Bericht des Danish Clearing House zeigt weiter: Es gibt wissenschaftlich abgesicherte Hinweise darauf, dass das Erlernen einer Fremdsprache das Erlernen weiterer Fremdsprachen begünstigt. Hingegen kann offenbar eine generelle Überforderung der Schülerinnen und Schüler durch das Erlernen mehrerer Sprachen durch wissenschaftliche Studien nicht nachgewiesen werden. Auf die Frage, ob es besser ist, mit Französisch oder mit Englisch in der Primarschule zu starten, hat die Wissenschaft heute keine Antwort. «Das Erlernen einer zweiten Landessprache und Englisch ab Primarstufe ist eine Chance für unsere Kinder. Sie bekommen damit Kenntnisse mit auf den Weg, die für ihre Zukunft – sei es in unserem mehrsprachigen Land oder im europäischen Kontext – wichtig sind und auf denen sie weiter aufbauen können», sagt Dominique Chételat. Dies gelte auch mit Blick auf das europäische Ausland, wo in den letzten Jahren sehr grosse Anstrengungen im Hinblick auf einen früher einsetzenden Fremdsprachenunterricht unternommen worden sind. Dominique Chételat hält jedoch auch fest, dass es wichtige Voraussetzungen gibt, um langfristig von der Motivation und Lernfreude der Kinder profitieren zu können: «Für die erfolgreiche Umsetzung des Sprachenkonzepts braucht es namentlich einen altersangepassten Unterricht, gut ausgebildete Lehrpersonen und eine angepasste Bewertung der Schülerleistungen.» Und er fügt an: «Für das Lernen ab Primarstufe spricht auch, dass genügend Zeit für das Lernen zur Verfügung gestellt werden muss. Die jüngste Untersuchung aus der Schweiz zeigt, dass mehr Lektionen über mehrere Schuljahre zu signifikant besseren Ergebnissen führen und dass die Spätlerner die Frühlerner bis am Ende der obligatorischen Schule nicht mehr einholen.»

Weitere Verbesserungen und Anpassungen

Die Entwicklung und Harmonisierung des Fremdsprachenunterrichts an der obligatorischen Schule der Schweiz ist immer noch im Gang. Der Kanton Thurgau beispielsweise setzt neue Impulse mit Halbklassenunterricht, vereinfachten Übertrittsregelungen, neuen Lehrmitteln sowie weiteren Massnahmen wie Schüleraustausch, «Sprachbad» wie auch der Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen. Die Bildungsdirektoren-Konferenz Zentralschweiz (BKZ) etwa hat diverse Massnahmen verabschiedet, um die Motivation und die Kompetenzen in Französisch im Volksschulbereich zu verbessern. Dies als Folge einer Fremdsprachenevaluation, die 2014/15 in den Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, und Zug durchgeführt worden ist. Die Untersuchung hatte gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler gegen Ende der obligatorischen Schule die Ziele im Englischen sehr gut erreichen, im Französischen allerdings weitaus weniger gut; in diesem Fach haben sie allerdings etwa 40 Prozent weniger Unterrichtszeit als im Englischen. Eine gewisse Schwierigkeit bei der Interpretation dieser Ergebnisse liegt darin, dass die Schülerinnen und Schüler im 8. Schuljahr getestet wurden, aber mit den Zielen, die sie per Ende des 9. Schuljahres erreichen sollten. Die Massnahmen, die man nun zur weiteren Optimierung des Französischunterrichts treffen will, fokussieren auf die Motivation der Schülerinnen und Schüler, die Unterrichtsgestaltung der Lehrpersonen und auf den Austausch. In diesen und weiteren Bereichen macht der Bericht der BKZ Vorschläge, wie beispielsweise durch den Einbezug neuer Medien die Motivation gesteigert werden kann. Bei der Unterrichtgestaltung soll ein spezieller Fokus auf die Knaben gelegt werden, welche bei der Fremdsprachenevaluation fast durchwegs schlechter abgeschnitten haben als die Mädchen. Als niederschwellige Impulsgeber für den Französischunterricht in der Region setzt die BKZ ein Fachnetzwerk Französisch ein, welches die «bonnes pratiques » für den Unterricht bereitstellt. Darüber hinaus soll die Zusammenarbeit mit «Movetia», der Schweizer Agentur für Austausch und Mobilität, intensiviert und so der Austausch gefördert werden.

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