Sturzhelm im virtuellen Universum

Kinder und Jugendliche brauchen heute Internet und Handy zum Leben wie den Sauerstoff zum Atmen. Doch beim Surfen im Netz lauern Gefahren, die von jungen Nutzern oft falsch eingeschätzt werden. Nur eine gezielte Förderung von Medienkompetenz bei Kindern und auch Eltern hilft langfristig, mit Inhalten kritisch, selbstbestimmt und verantwortungsvoll umzugehen.

Bild: © Shutterstock

Wenn Anna, 14, von der Schule heimkommt, schnappt sie sich den Laptop, ­fläzt sich aufs Bett und checkt erst mal E-Mails und Facebook und schaut dazu vielleicht eine Folge «Scrubs» auf dem Bildschirm. Auf dem Handy ploppen in regelmässigen Abständen SMS rein, geschrieben von Freundinnen und Freunden, von denen sie sich gerade eben auf dem Pausenplatz verabschiedet hat.  Handy und Internet sind heute die wichtigsten und meistbenutzten Medien der Jugendlichen, dies zeigen die neuesten Ergebnisse der von Swisscom in Auftrag gegebenen und von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchgeführten JAMES-Studie (Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz), welche das Medienverhalten von Jugendlichen in der Schweiz untersucht hat: Drei Viertel der Befragten haben einen eigenen Computer, 95 Prozent haben von zu Hause aus Zugang zum Internet.

Durchschnittlich surfen die Jugendlichen wochentags täglich rund zwei Stunden. An Wochenenden sind es sogar drei Stunden. Besitz und intensive Nutzung von Computer und Mobiltelefon sowie Internetnutzung und Onlinespiele gehören heute zum selbstverständlichen Standard der Heranwachsenden.

Ohne Handy geht gar nichts mehr

Die Resultate einer weiteren Studie der ZHAW und der Forschungsstiftung Mobilkommunikation der ETH Zürich (FSE) lassen allerdings aufhorchen: Zwar pflegt die Mehrheit der Jungen einen problemlosen Umgang mit Mobiltelefonen. Mehr als jeder Zwanzigste zeigt aber Anzeichen von starkem Suchtverhalten. Das kann so weit gehen, dass die Betroffenen ihr  Handy bis unter die Dusche mitnehmen. Ist ihr Mobiltelefon nicht in Griffnähe, haben sie Konzentrationsprobleme, schlafen nicht genug und leiden an Entzugserscheinungen. Die Folgen: Die jungen Menschen kommen in der Schule nicht mehr mit und vernachlässigen soziale Kontakte. Medienpsychologe und Studienverfasser Gregor Waller: «Die Resultate zeigen, dass tatsächlich eine Handyabhängigkeit als eigenständige Suchtart existiert und dass davon Tausende Jugendliche in der Schweiz betroffen sind.» 95 Prozent der 12- bis 19-Jährigen besitzen ein Handy. 80 Prozent davon ein Smartphone. Vor allem diese Multifunktionalität regt zu übermässigem Konsum an.  Solche Meldungen verunsichern Eltern: Was ist zu tun? Handyverbot? Internet­zugang einschränken oder gar sperren? Medienpädagogen winken ab und plädieren nicht für ein Verbot, sondern für einen kompetenten Umgang. Das heisst, dass der Umgang mit den neuen Medien gelernt sein will. Die Medienbildung hat zum Ziel, eine hohe Medienkompetenz bei Kindern, Jugendlichen und Eltern zu schaffen. Medienkompetenz heisst, mit Medien und deren Inhalten kritisch, selbstbestimmt und verantwortungsvoll umzugehen.

Das befähigt, Chancen zu nutzen und Gefahren einzuschätzen. Gerade deshalb sollen und müssen Eltern ihre Kinder beim Eintritt in die sozialen Netzwerke begleiten und unterstützen. Verschie­dene Telekom-Anbieter nehmen sich die Erkenntnisse aus der Medienpädagogik zu Herzen und bieten massgeschneiderte Eintrittsangebote für Kinder und ihre Eltern an. Pro Juventute reagierte zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Sunrise und lancierte im Mai das Angebot «Primobile», das Eltern und Kindern ab neun Jahren helfen soll, sich sicher und verantwortungsbewusst in der virtuellen Welt zu bewegen. Swisscom brachte im Oktober das Angebot NATEL® easy start für Kinder ab sechs Jahren auf den Markt.

Dumm, dick, faul?

Anders als die Medienpädagogen argumentieren verschiedene Neurowissenschaftler, allen voran Manfred Spitzer. Er findet in seinem Buch «Digitale Demenz»: ausgiebiger Medienkonsum macht faul, dick und dumm. In seinem Buch bezeichnet Spitzer internetfähige Computer als «Lernverhinderungsmaschinen». Weil der Computer den Schülern geistige Arbeit abnimmt, lernen diese nicht mehr richtig, meint er. Google und Facebook – alles Gift fürs Hirn und deshalb nichts für Kinder und Jugendliche.  Handyabhängigkeit, Internetsucht, Verblödung – die Meldungen lassen ­Eltern erschaudern. Das Internet zu ­einer ganz bösen, ganz schlimmen ­Sache zu erklären, ist aber schlichtweg falsch. Denn wie wir alle wissen, gehören die neuen Medien zum modernen Alltag wie irgendwann in den Sechzigerjahren auch der Fernseher plötzlich zum Alltag gehört hat. Oft wissen die Kinder mehr über Nutzung und Handhabung des ­Internets als die Eltern. Es braucht also nicht bloss eine Förderung der Medienkompetenz bei Kindern, sondern auch bei den Eltern, denn nur informierte ­Eltern können in dieser Hinsicht auch kompetente Eltern sein. Wichtig ist, dass Gefahren erkannt werden, denn nur wer Gefahren kennt, kann sich angemessen schützen.

Wo liegen die Gefahren?

Die Gefahren liegen – wie im richtigen ­Leben – überall. Es ist unmöglich, das ­gesamte virtuelle Universum zu kontrollieren. Ebenso wenig können Eltern ihre Kinder vor allen Risiken in der Welt schützen. Aber Eltern können den Kindern das nötige Schutzzeug mitgeben, ganz so, wie sie die Kinder verpflichten, den Schutzhelm oder Knie- und Ellbogenschoner anzuziehen. Kinder und Jugendliche halten mit der rasanten Entwicklung von PC, Smartphone und Internet zwar mühelos Schritt. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie mit den medialen Inhalten kompetent umgehen können. Erwachsene haben im Laufe der Zeit unterschiedliche Kriterien entwickelt, mit denen sie Angebote und Inhalte schnell als seriös oder unseriös einstufen können. Genauso müssen auch Kinder lernen, Alarmzeichen erst kennenzulernen und ein kritisches Einschätzungsverfahren zu entwickeln. Die neueste Ausgabe der JAMES-Studie zeigt aber, dass sich immer mehr Jugendliche bewusster werden, dass auf Facebook veröffentlichte Daten ohne nötigen Schutz für Jedermann sichtbar sind. 80 % der Befragten geben heute an, dass sie den Zugriff auf ihr Profil aktiv einschränken.

Zermürbend: Cybermobbing

Im Sommer schlug Pro Juventute Alarm: Immer häufiger wählen Kinder und Jugend­liche wegen Cybermobbings die Nummer 147, auf der Pro Juventute Be­ratung und Hilfe bietet. Im ersten Halbjahr 2012 suchten jede Woche zwei bis drei Kinder und Jugendliche telefonisch Hilfe bei Pro Juventute, weil sie im ­Internet schikaniert wurden. Peinliche ­Fotos, böse Gerüchte, Lügen und Beleidigungen, oft unter der Gürtellinie, werden in Umlauf gebracht. Acht bis neun Prozent der Schweizer Jugendlichen haben schon erlebt, dass man sie im Internet fertigmachen wollte. Ein besonderes Gefahrenpotenzial stellt hier dar, dass Jugendliche zu sorglos mit ihren Fotos im Internet und auf dem Handy umgehen. Oft hilft dagegen nur ein entschiedenes Vorgehen (siehe übernächster Abschnitt).

Bundesrat prüft Gesetz

Auch der Bundesrat will sich um die Frage­ kümmern, wie Kinder vor den ­negativen Auswirkungen von Social ­Media wie Facebook und Twitter geschützt werden können. Wie ein solcher Schutz aussehen könnte, zeigt der Bericht «Rechtliche Grundlagen für Social ­Media», den der Bundesrat voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2013 dem Parlament unterbreiten wird. Dabei wird der Bundesrat auch prüfen, ob gesetzliche Lücken im Datenschutz, bei den Persönlichkeits- und Urheberrechten bestehen und ob sie allenfalls geschlossen werden müssen.

Was tun gegen Cybermobbing?

Genau hinschauen

Was ist vorgefallen? Handelt es sich um einen Streit zwischen Freundinnen und Freunden, oder wird das Kind von anderen aus der Anonymität heraus wiederholt attackiert und geplagt? Sind die Täter bekannt, suchen Sie das Gespräch mit den Jugendlichen und Kindern, den Eltern und evtl. mit den Lehrpersonen, wenn das Mobbing im Schulkontext auftritt. Besprechen Sie unter Erwachsenen, welche Massnahmen zu treffen sind, und binden Sie die Kinder mit ein. Versuchen Sie, den Konflikt unter den beteiligten Personen zu lösen.

Hilfe holen:

Wenn Sie oder Ihr Kind nicht mehr weiterwissen, sollten Sie sich an eine Opferhilfeorganisation wenden. Diese kann Ihnen raten, ob und in welcher Art die Angriffe rechtlich von Belang sind und in welchen Fällen es sich lohnt, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Sammeln Sie alle Beleidigungen und Angriffe für allfällige Beweiszwecke. Auch das Pro Juven­tute Telefon 147 (für Kinder) bietet rasche und unkomplizierte Hilfe, für ­Erwachsene bietet der Elternclub Schweiz (www.elternclub.ch) unter der Nummer 058 261 61 61 Beratung.

Ändern der Kontaktdaten:

Wechseln Sie die E-Mail-Adresse und, wenn nötig, auch die Handynummer Ihres Kindes, damit es nicht länger den Mobbing-Attacken ausgesetzt ist. Raten Sie Ihrem Kind auch, alle Nicknames in den Communities und Chaträumen zu ­ändern. Melden Sie die Koordinaten der Täter den Betreibern der Communities oder der Chats. Fordern Sie die Betreiber auf, die beleidigenden Inhalte oder die peinlichen Fotos und Filme zu löschen.

Wenn das eigene Kind mobbt oder ein Mitläufer bei «Cybermobbing» ist:

Wenn Sie bemerken, dass Ihr Kind sich an Cybermobbing beteiligt, müssen Sie reagieren. Ihr Kind muss wissen, dass Angriffe über das Internet einer Person massiv schaden können und dass seine Beteiligung strafbar ist. Cybermobbing ist alles andere als cool: Machen Sie das Ihrem Kind klar und machen Sie deutlich, dass man andere so behandeln soll, wie man selber gerne behandelt werden möchte. Ermuntern Sie Ihr Kind auch, Zivilcourage zu zeigen, einzugreifen und, wenn nötig, Erwachsene beizuziehen, wenn es von solchen Machenschaften weiss. Das hat nichts mit Verrat zu tun, sondern mit Mut!

Das müssen Eltern wissen, deren Kinder chatten

  • Halten Sie Schritt mit dem Computer-/Internet-Wissen Ihres Kindes.Nehmen Sie sich Zeit, mit Kindern über Internet, Chat, Facebook, Netlog und die Unterschiede der Plattformen zu diskutieren oder sich auch aktiv anzumelden.
  • Bei Kindern unter 12 Jahren empfiehlt es sich, den PC nicht ins Kinderzimmer zu stellen.
  • Verschaffen Sie sich Einblick in die -Internetkommunikation der Kinder und Jugendlichen, erkundigen Sie sich, welche Chaträume Gefahren bergen. Informieren Sie sich über Chats unter www.fit4chat.ch (Angebot der Luzerner Polizei für Kinder und Eltern sowie -Lehrpersonen).
  • Haben Sie den Verdacht, dass es sich bei einer Webseite oder bei Mails mit unangebrachten Inhalten um
    Straftaten handelt, wenden Sie sich an die lokale Polizeistelle oder informieren Sie die nationale Stelle für Internetkriminalität www.kobik.ch (Meldeformular)
  • Chat-Verbot bringt nichts, es animiert Kinder, heimlich zu chatten.
  • Mit dem Projekt «Mediencoaching für Eltern» werden Eltern darin unterstützt, ihr Wissen über die neuen Medien, ihre Chancen und ihre Gefahren zu verbessern.
    www.medien-coaching.ch
  • Auf www.jugendundmedien.ch erhalten Eltern, Lehr- und Betreuungspersonen einen Überblick über Chancen und Gefahren von digitalen Medien.
  • www.surfen-ohne-risiko.net bietet viele Infos und Links zum Thema Jugendmedienschutz.

Social Media Nutzungsregeln

  • Soziale Netzwerke bevorzugen, in -denen sich Personen mit dem – richtigen Namen zu erkennen geben.
  • Anonyme soziale Netzwerke meiden.
  • Nur «Freunde» akzeptieren, die man kennt.
  • Niemals Namen, Adresse, Telefonnummern, Schulhaus und anderes bekanntgeben.
  • Keine Nicknames verwenden, die Hinweise auf Alter und Geschlecht geben.
  • Es geht niemanden etwas an, ob man allein zu Hause ist.
  • Keine Daten von Seiten herunterladen, die man nicht kennt.
  • Auch Kinder dürfen unhöflich sein und einen Dialog einfach abbrechen.
  • Nicht alles glauben, was erzählt wird. Man weiss nie, wer der Chatpartner wirklich ist und was er oder sie mit den Informationen macht, die ihm gegeben werden.
  • Keine Antwort auf E-Mails mit verwirrendem Inhalt.
  • Kein Treffen mit Personen, die ein Kind im Internet kennengelernt hat ohne Eltern

 

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